Freitag, 5. Oktober 2012

Wir wollten aufs Meer

Historische Aufarbeitung in Filmen ist immer so eine Sache. Nie kann ein Film alle Aspekte eines historischen Ereignisses oder einer Epoche darstellen. Die Filmemacher müssen sich für einen Aspekt entscheiden. Bestenfalls wird dieser Aspekt gut inszeniert und es entsteht ein spannender Film. Heikel wird es bei Filmen über die neueste Geschichte. Über die DDR und ihre Geschichte gibt es unzählige Ansichten und Meinungen. Vor allem gibt es viele Zeitzeugen und wenn heute jemand einen Film über die DDR macht, muss er genau aufpassen, für welchen Aspekt er sich entschieden hat, um darüber zu berichten. Wenn man nun hört, dass der Debutant Toke Constantin Hebbeln, der im Westen geboren wurde und gerade mal 12 Jahre alt war, als die Mauer fiel nun seinen ersten Spielfilm der Problematik Stasi und Stasi-Gefängnis widmet, wird man gleichzeitig hellhörig und skeptisch.

Conny und Andi sind von Kindesbeinen an beste Freunde. Sie teilen einen großen Traum. Sie wollen aufs Meer. Das ist in der DDR allerdings nicht so einfach. Nur Bürger, die als absolut gefestigt und republiktreu gelten, dürfen auf die Überseeschiffe. So entwickeln die beiden Freunde eine totsichere Strategien. Sie heuern bei der Handelsmarine an und beginnen dort als Hafenarbeiter. Sie wollen sich immer weiter hocharbeiten, bis sie irgendwann auf die Matrosenschule, und dann schließlich irgendwann aufs Meer dürfen. Doch den beiden werden immer wieder Steine in den Weg gelegt. Nach vielen Jahren sind sie immer noch kleine Hafenarbeiter und ihrem Ziel keinen Schritt näher gekommen. Da bekommen sie das Angebot, Kollegen zu bespitzeln, denn natürlich verlockt die Anwesenheit so vieler internationaler Schiffe im Hafen den ein oder anderen dazu, darüber nach zu denken, das Land zu verlassen. Als Belohnung für lohnende Informationen sollen die beiden endlich zur See fahren dürfen.
Conny findet diesen Weg allerdings falsch und lehnt das Angebot der Stasi ab. Andi ist aus anderem Holt geschnitzt und verrät den langjährigen Kollegen Schönherr. Die beiden Freunde geraten hart aneinander und im Laufe des Streits wird Andi schwer verletzt. Conny sieht unterdessen keine andere Möglichkeit mehr und ergreift die Flucht. Andi ist mittlerweile stocksauer und will sich rächen. Er verrät auch Conny. Der wandert ein und Andi wird Stasi-Mitarbeiter. Während der eine also mit allen Konsequenzen seine Entscheidung trägt, den Traum zu verwirklichen, egal, was dafür getan werden musste, entfernt sich der andere Freund immer mehr von dem Vorhaben, aufs Meer zu fahren.
Die ersten Minuten von „Wir wollten aufs Meer“ lassen Schlimmes befürchten. Der Vorspann und die Aufmachung erinnern sehr stark an drittklassige Eigenproduktionen privater Fernsehsender. Dieser Tage lief erst ein unsägliches Liebesdrama über die Berliner Mauer auf einem der bunten TV-Sender. Dass Hebbelns Erstling allerdings kein Event-Film-Film ist, merkt man glücklicherweise relativ schnell. Im Grunde zeichnet er nämlich ein sehr nüchternes Bild der Vorgehensweise und Methoden der Stasi. Wir sehen ein System, dass davon lebt, Menschen zu beschatten und schließlich gegeneinander auszuspielen. Interessant ist aber der Gedanke, den der Film zusätzlich mit transportiert. Die beiden Hauptfiguren durchleben tragische Situationen. Keiner von beiden ist der Held oder der Schurke. Beide können einem leid tun, aber sie zeigen, dass man trotz allen Drucks von Seiten des Staates immer eine Wahl gehabt zu haben schien. Diese beiden Freunde haben ihre jeweilige Wahl getroffen und ziehen sie mit allen – teilweise unangenehmen – Konsequenzen durch. Beiden wird durch den jeweils anderen gezeigt, was ihnen passiert wäre, hätten sie sich für die andere Seite entscheiden. Daraus ergibt sich eine sehr spannende und ungewöhnliche Konstellation. Das macht diesen Film so interessant und bietet erstaunliche Perspektiven auf ein Land, welches unsere Generation eben vielleicht nur noch aus Eventfilmen von Privatsendern kennt.
Natürlich kann  sich Hebbeln nicht verkneifen, ein paar gestalterische Mittel über zu beanspruchen. So arbeitet er unentwegt mit farblichen Filtern, die die jeweiligen Situationen recht plastisch und bühnenhaft wirken lassen. Die Musik ist sehr aufregend und erinnert nicht selten an amerikanische Agenten-Thriller, was in manchen Szenen einfach unpassend und zu dramatisch wirkt. Der Film packt außerdem eine Liebesgeschichte dazu, die unnötig gewesen wäre.

„Wir wollten aufs Meer“ ist nicht perfekt, aber überraschend. Ungewohnt nüchtern werden hier beide Seiten der Stasi-Problematik dargestellt. Der Film ist weder schwarz noch weiß und das ist auch die Art und Weise, wie man aus heutiger Sicht die gesamte DDR-Geschichte betrachten sollte. Nichts war einfach und alles war wesentlich komplizierter, als wir uns das vorstellen können. Der Film lässt viel offen, inspiriert aber vielleicht dazu, sich intensiver und offener mit der neuesten Geschichte der DDR zu beschäftigen.

Wir wollten aufs Meer (D, 2012): R.: Toke Constantin Hebbeln; D.: August Diehl, Alexander Fehling, Rolf Hoppe, Sylvester Groth, u.a.; Offizielle Homepage

In Weimar: lichthaus

Der Filmblog zum Hören: Jeden Donnerstag, zwischen 12:00 und 13:00 Uhr auf Radio Lotte Weimar.

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